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Written by Gil Yaron   
Wednesday, 30 December 2009
Hier geht es um den Kopf

Gewöhnlich schaut der Schalk aus Abraham Fersters Augen. Doch jetzt eilt er auf einmal zu dem neuen Kunden am Tresen. „Das ist ein sehr namhafter Rabbiner“, flüstert Ferster ehrfurchtsvoll. Er wolle seinen Hut reparieren lassen, erklärt der ältere Herr. Obwohl der Rabbiner ein viel beschäftigter Mann ist, kümmert er sich lieber selbst darum. Denn was für viele Deutschen ihr Auto ist, ist den Haredim, den „Gottesfürchtigen“, wie die ultra-orthodoxen Juden sich in Israel nennen, ihre Kopfbedeckung.

Selbst viele Israelis können zwischen den verschiedenen Gruppierungen der Ultra-Orthodoxen nicht unterscheiden und scheren die Gläubigen mit den schwarzen Kaftanen und langen Schläfenlocken meist über einen Kamm. Einem Kenner wie Abraham Ferster jedoch klingt diese Verallgemeinerung wie der Vergleich zwischen einer Limousine und einer Kutsche, die ja auch alle vier Räder und eine Sitzbank hätten. „Es liegen Welten zwischen verschiedenen Gruppen der Haredim, und jede hat ihren eigenen Hut“, sagt der 29 Jahre alte Hutmacher. „Niemand kann sich als Haredi verkleiden, er würde sofort auffliegen“, sagt Ferster, der die Fabrik seiner Familie im orthodoxen Stadtviertel Mea Schearim leitet. Die richtige Kombination von Hut, Strümpfen, Bartschnitt und Schläfenlocken demonstriere, zu welcher Strömung man gehört. Statussymbol und Ausdruck einer Weltanschauung zugleich, liefert eine Kopfbedeckung den Haredim mehr Information als ein biometrischer Ausweis.

Seit vier Generationen versorgen die Fersters Haredim mit Hüten. Abrahams Urgroßvater Abraham Josef Ferster begründete 1912 in Warschau die kopflastige Dynastie. Nach dem Ersten Weltkrieg musste er fliehen. Die polnischen Behörden waren auf ihrer Jagd nach einem deutschen Spion ähnlichen Namens auf den Hutmacher gestoßen und verdächtigten ihn, der gesuchte Agent zu sein. Seine Flucht führte ihn nach Wiesbaden, wo Ferster seine ersten geschäftlichen Erfolge verbuchte. Schon 1932 erkannte der junge Mann die Gefahr, die von den Nazis ausging, und flüchtete mit Frau und sechs Kindern nach Jerusalem. Hier eröffnete er auf der Ben-Jehuda Straße sein erstes Geschäft.

Bevor moderne Shoppingzentren das Einkaufsverhalten der Israelis von Grund auf änderten, galt die Ben-Jehuda Straße als schickste Geschäftsmeile im jüdischen Westjerusalem. Doch die jahrelange Terrorkampagne der zweiten Intifada, nicht enden wollende Straßenarbeiten für die Straßenbahn und die Konkurrenz vollklimatisierter Konsumtempel versetzten der edlen Fußgängerzone einen schweren Schlag, von dem sie sich heute nur langsam erholt. Zwischen einem Souvenirladen und einem Taschenverkäufer hält Israel Ferster in der ersten Filiale des Familienunternehmens seit Jahrzehnten die Stellung.

Die Schirmmützen und farbigen Hüte in den überfüllten Regalen verbreiten eine bittersüße Nostalgie. Einst, als Hüte noch zur Grundausstattung modischer Männer gehörten, kauften hier die wichtigsten Politiker Israels ihre Kopfbedeckung. Der erste Premier David Ben Gurion war ebenso Kunde wie Menachem Begin. Jetzt schaut nur noch gelegentlich Kundschaft vorbei, meist ältere Herren, die einen Sonnenschutz für ihre inzwischen haarlose Kopfhaut suchen. Sie probieren erst fünf verschiedene Schirmmützen aus und schachern dann mit dem langsam dahin schlurfenden und stets freundlich lächelnden Israel um die zehn Euro teuren Hüte.

Das Hauptquartier der Fersters liegt inzwischen in Mea Schearim, wo die Haredim an ihrer Jahrhunderte alten Kleiderordnung festhalten. Ein unscheinbarer Gang führt von der Hauptstraße in die größte der sieben Filialen des Familienunternehmens. Im vom kalten Neonlicht durchfluteten Ausstellungsraum im Parterre stehen schwarze Fedoras säuberlich gestapelt auf gewienerten Regalen. Bei Fersters heißen diese weichen Filzhüte „Kneitsch“, eines der wenigen jiddischen Worte, die im Geschäft benutzt werden. Die Zeit aus Wiesbaden hat sich in der Fachsprache niedergeschlagen, die sich frei des Deutschen bedient: Den Kranz, auf dem die Hüte stehen, nennen die israelischen Verkäufer „Untersatz“, die Hutkrempe „Rand“ und einen gebogenen Hutrand „Roll“. „Das sind die Hüte der „Litauer““, sagt Israels Enkel Abraham, der diese Filiale leitet. Die Litauer gelten als nüchterne und gebildete Haredim. Sie sind das Gegenstück der Hassidim, Anhänger einer Bewegung aus dem Russland des 18. Jahrhunderts, die die Lebensfreude und die mystische Verbindung zwischen Rabbinern und ihren Anhängern betonen. Hassidim setzen auf Inbrunst, Litauer halten hingegen ein hartes Bibelstudium für den besten Weg, um Gottes Gebote zu erfüllen. „Bei den Litauern gibt es durchaus ein Modebewusstsein“, sagt Ferster. Das weiß der gewiefte Geschäftsmann für sich zu Nutzen: „Hier ändert sich die Mode. Mal ist die Krempe breiter, mal schmaler; mal der Hut höher, mal niedriger.“ Da es unter Haredim keine Modemagazine gibt, sei sein Geschäft der „Trendsetter“ der sich ständig erneuernden Litauer Modewelt, sagt der junge Direktor mit einem verschmitzten Lächeln.

Wenn Ferster in den Keller seines Geschäftes hinabsteigt, leuchten seine Augen auf: „Hier unten ist die Welt der Hassidim, jeder Hut ist anders.“ Suchen die Litauer im Parterre nach der modischsten Neuerung, gilt den Hassidim im Keller „modisch“ als Schimpfwort. Drei Dinge, so behauptet eine Auslegung der Bibel, habe Gott einst dazu bewegt, sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten zu retten. Er habe die Juden befreit, weil sie ihre Namen, ihre Sprache und ihre Tracht bewahrt hätten. Jerucham Kloisner, der als Verkäufer im Geschäft arbeitet, ist sich deswegen absolut sicher: „Bei uns Juden hat sich seit tausend Jahren nichts verändert, und nichts wird sich je verändern.“ Deswegen wollen die Hassidim, sagt Ferster, „genau den gleichen Hut wie ihr Großvater.“

Seine Angestellten müssen genau wissen, wem sie welchen Hut anbieten können. Die Hassidim teilen sich in verschiedene Höfe auf. Heute gibt es hunderte Strömungen, manche mit einzelnen, andere mit zehntausenden Anhängern, die sich um einen Rabbiner scharen. Sie unterscheiden sich in Bräuchen, Gebeten, und in ihrer Kleidung. „Niemals würde der Hassid einer Strömung eine Frau von einem anderen hassidischen Hof heiraten“, sagt Ferster, der selber den Belser Hassidim angehört. Kleinste Unterschiede in der Krempe, am Hutband, Höhe oder Material geben die Herkunft der Hassidim an. Die militanten Anhänger von Toldot Aharon tragen den flachen „Super“. „Wir Belser und die Wischnitzer hingegen tragen denselben runden Hut, unsere Hutbandschleife ist aber links, die der Wischnitzer rechts“, sagt Ferster.

Zwischen 160 und bis zu 250 Euro kann so ein Hut kosten. „Das ist nicht viel, vor allem wenn man bedenkt, dass ein Hut 25 Händepaare durchläuft, bevor er auf dem Kopf eines Kunden gelangt“, sagt Ferster. Hinter der Theke im Keller erstreckt sich Abraham Fersters Reich. Hier befinden sich Fabrik und Hutreparaturwerkstatt. Zwar lassen die Fersters inzwischen die meisten Hüte in ihrer Fabrik in Ungarn herstellen. Besondere oder maßgeschneiderte Hüte fertigt Abraham aber immer noch von Hand.

Am Lieferanteneingang liegt ein Stapel Rohlinge. Es sind unförmige, hohe Hexenhüte aus weichem Filz. „Spanien und Osteuropa sind heute die wichtigsten Lieferanten von Hasen- und Kaninchenhaaren, der Grundstoff, aus dem Filz besteht“, sagt Abraham. Die geschorenen Haare werden mit Hilfe von Seife und Dampf zu einer Matte gepresst, der man später mit dem richtigen Druck und Dampf in jede beliebige Form geben kann. Als erstes gibt Abraham den Rohling in eine Maschine, die dem Hexenhut mit Hilfe einer von hunderten verschiedenen Bleisätzen seine endgültige Form geben soll. „Man glaubt ja gar nicht, wie viele verschiedene Kopfformen es gibt“, sagt Mosche Ferster, der ebenfalls hier arbeitet. Er kennt seine Kundschaft bereits: „Die Juden aus arabischen Ländern haben meist einen flachen Hinterkopf, amerikanische Juden einen Riesenschädel“, sagt Abraham, bevor er die riesige Maschine betätigt, aus der in dichten Wolken heißer Dampf zischt.

Danach wird ein Lederband in den Hut genäht: „Das stabilisiert den Hut, sonst würde er seine Form verlieren“, sagt Mosche. Nachdem ein seidenes Futter eingeklebt wird gehen die Hutmacher zum nächsten, entscheidenden Produktionsschritt über, denn noch schlottert die Hutkrempe unförmig herum. Auf zig Regalen stapeln sich unzählige hölzerne, handgefertigte Holzformen. Sie dienen als Untersatz, auf denen die vorher eingeleimten und zurechtgestutzten Hutkrempen mit einem schweren, selbst gebastelten Bügeleisen gebügelt werden. Das Rezept des Leims ist ein Geschäftsgeheimnis. Die Fersters achten sorgsam darauf, dass keine der nach Terpentin duftenden Flüssigkeiten, die in der Fabrik benutzt werden, identifiziert werden können. Sie leben davon, dass die Haredim immer wieder versuchen, ihre eigenen Hüte zu reparieren, und damit ruinieren. Reparaturen sind ein wichtiger Teil des Alltagsgeschäfts. Alle paar Minuten wird vom Geschäft ein dreckiger oder eingedellter Hut in die Fabrik geschoben, den Abraham oder Mosche dann mit Dampf und ihren geheimen Tinkturen wieder in Form bringen.

Auch wenn die Krempe von alleine steht und wie erwünscht gebogen ist, ist der Hut noch nicht fertig. Im Hintergrund näht der 84 Jahre alte Isidor Sissovitz die eigens bestellten Hutbänder an. Der taube Holocaustüberlebende spielt mit seiner fünfzig Jahre alten Nähmaschine die knatternd eintönige Hintergrundmusik. Abraham zwinkert und zeigt auf die Nähmaschine: „Die alte Pfaff ist übrigens zweckentfremdet. Sie wurde eigentlich entwickelt, um Büstenhalter zu nähen.“ „Selbst in den Hutbändern gibt es große Unterschiede“, sagt Mosche. Die Hassidim verlangen simple, einfarbige Bänder, bei Litauern darf schon mal ein kleiner silberner Schmuck an der Schleife hängen.

Der Augenblick, in dem ein Haredi beginnt, einen Hut zu tragen, markiert einen Wendepunkt in seinem Leben. Manche Gruppierungen gestatten die prestigeträchtige Kopfbedeckung bereits im Alter von dreizehn Jahren, wenn die Jungen Bar Mizvah feiern, also religiös gesehen volljährig werden. In anderen Strömungen berechtigt erst die Hochzeit einen Mann dazu, einen Hut zu tragen. Im Hut spiegelt sich nicht nur Zugehörigkeit, sondern auch gesellschaftlicher Status. Vielleicht beschreibt Fersters Hutkatalog deswegen fast jedes Exemplar als „sehr ehrwürdig“. Einzig der „Brandolino“ sei „besonders prachtvoll und beeindruckend, wie es sich für einen Bräutigam ziemt“, heißt es im Prospekt. Kein Hut jedoch gilt als so prestigeträchtig wie der edle „Hamburg“, das Flagschiff der Hüte, der ausschließlich hohen Gelehrten und angesehenen Rabbinern vorbehalten ist. Vorsichtig holt Ferster das matt schimmernde Glanzstück aus dem Hutkarton hervor. Nur allgemein respektierte Rabbiner wagen es, so einen Hut zu tragen. „Wenn ein junger Bursche so etwas auf der Straße aufsetzte, würden ihn alle fragen, ob Karneval ist“, sagt Ferster.

Hinter der Theke bewahrt der Verkäufer Kloisner ein ganz besonderes Stück auf. Man darf es nicht anfassen, Kloisner will er nicht einmal aus der Schachtel nehmen, sondern lässt Interessenten nur aus der Ferne einen Blick auf den Inhalt werfen. Fast alle Haredim tragen schwarz, nur diejenigen, die sich mit der jüdischen Mystik Kabbala lange genug befasst haben, kleiden sich ganz in Weiß. „Die schwarzen Hüte werden gefärbt, aber einen schneeweißen Hut kann man nur aus völlig weißen Hasenhaaren machen“, sagt Kloisner, der sich Handschuhe übergezogen hat und vorsichtig den Karton öffnet. Der weiße Hut wird Kunden erst überreicht, nachdem sie bezahlt haben. Mit dem Kauf erlischt die Gewähr.

Selbst teure Hüte sind kein langlebiges Produkt. „Wir geben zwei Jahre Garantie auf unsere Produkte, aber nur unter der Bedingung, dass der Kunde den Hut nie aufsetzt und hier im Laden lässt“, sagt Kloisner mit einem breiten Schmunzeln. Selbst die härtesten Qualitätshüte leiden unter den schwierigen Witterungsbedingungen. Die Mittagssonne bleicht sie aus, Regen verformt sie, auf dem Schwarz ist jeder Fleck gut zu sehen. Da hilft es auch nicht viel, die teuren Stücke im Winter nur unter übergestülpten Plastiktüten zu tragen. Die Fersters vertrauen deswegen darauf, dass selbst ihre berühmtesten Kunden auch in Zukunft persönlich wiederkommen müssen.

© 2009 Gil Yaron - Making the Middle East Understandable

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