Manchmal mutet es fast übernatürlich entspannt an, wie die Israelis mit der Schoa und ihrem Verhältnis zu Deutschland umgehen. Diskussionen über Kontakte zwischen Israel und Nachkriegsdeutschland, die hohe Wellen schlugen und fast einen Volksaufstand entfachten, schienen einer schwierigen aber bewältigten Vergangenheit anzugehören. Niemand störte sich daran, als das Kammertheater in Tel Aviv vor wenigen Jahren ein Stück inszenierte, das den "deutschen Opfern" des Zweiten Weltkriegs ein Denkmal setzte. Längst differenzieren die meisten Israelis zwischen Deutschen und Nazis. Die einen bleiben Sinnbild des Bösen, Deutsche sind hingegen gern gesehene und herzlich empfangene Gäste. Kanzlerin Angela Merkel ist laut Umfragen eine der beliebtesten ausländischen Politiker, Berlin ist eines der begehrtesten Reiseziele junger Israelis. Die engen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland waren Beweis, dass Aussöhnung zwischen Völkern möglich ist.
Mosche Sinai, Bürgermeister der israelischen Kleinstadt Rosch Haayn, dachte deswegen, er könne im Rahmen der allgemein akzeptierten Normalisierungspolitik ebenfalls eine Partnerschaft mit einer deutschen Stadt eingehen, genau wie mehr als 70 andere israelische Kommunen, die bereits Partnerschaften in Deutschland pflegen. Doch Sinais Partner jenseits des Mittelmeers war nicht irgendeine Stadt, sondern Dachau, Standort des ersten Konzentrationslagers der Nazis. Das KZ-Dachau war Prototyp, Versuchsarena und Ausbildungsstätte für die SS-Wachen der Vernichtungslager, in denen in Osteuropa sechs Millionen Juden ermordet wurden. Mehr als ein Drittel der rund 200.000 Gefangenen Dachaus waren Juden, rund 43.000 Insassen wurden durch Hunger, Krankheit und Mord getötet. In den Augen vieler Israelis ist Dachau deswegen nicht der Name einer normalen Kleinstadt im Großraum München. "Dachau ist ein Symbol", sagte ein Überlebender des KZs, der unerkannt bleiben möchte, unserer Zeitung.
Jahrelang war die deutsche Stadt deswegen vergeblich auf der Suche nach einem israelischen Partner, bis Sinai von den Schwierigkeiten hörte. Sinai, Sohn von Schoa-Überlebenden der nach seinem von den Nazis ermordeten Onkel benannt wurde, wagte den Kontakt und fuhr nach Bayern. Der Besuch überzeugte ihn von der Aufrichtigkeit der Deutschen: "Wir sind drei Stunden durch die Gedenkstätte gegangen, und der Oberbürgermeister hatte Tränen in den Augen." Sinai beschloss nach seiner Rückkehr, den Austausch von Jugendlichen voranzutreiben, um "gemeinsam gegen Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus" anzugehen.
Als die israelische Presse die Kontakte bekannt machte und gar behauptete, eine offizielle Städtepartnerschaft sei abgeschlossen worden, gingen Überlebende das KZ-Dachau auf die Barrikaden und nahmen Sinai unter Beschuss: "Ich kann nicht verstehen, wie man so etwas tun kann", sagte Mosche Sanbar (84), ehemaliger Vorsitzende der Bank of Israel. Er habe nichts gegen die junge Generation in Deutschland. Trotzdem müsse Sinai seine "beschämende Entscheidung" rückgängig machen. Andere Schoa-Überlebende stimmten ein. Der Kolumnist Noach Klieger bezeichnete den Schulterschluss als "schreckliche und empörende Dummheit", der "jegliches Einfühlungsvermögen" fehle. Ihnen ging diese Normalisierung einen Schritt zu weit. Viele Zeitungen kritisierten Sinais Beschluss, manche vermuteten gar, er hoffe auf finanzielle Vorteile, wenn er sich "eine blondgelockte, blauäugige Partnerstadt" aussuche.
Sinai ist von der Kritik überrascht und weist sie vehement zurück: "Wir sollten nicht zwischen Kindern und Jugendlichen in Berlin, München oder Dachau unterscheiden. Sollen wir Orte in Deutschland danach aussuchen, ob dort mehr oder weniger Juden umgebracht wurden? Sollen wir uns denen verweigern, die aus der Geschichte lernend im positiven Geist den Kontakt suchen?". Das, so meinte Sinai, wäre sehr "unjüdisch". Gleichzeitig ist Sinai darum bemüht, die Wogen zu glätten. Immer wieder betont er in den Medien, dass es sich lediglich um den Austausch von Jugendlichen handle, die gemeinsam über die Schoa lernen sollen. Eine Städtepartnerschaft schließt er vorerst kategorisch aus.
Wenn auch Sinais Kritiker die Bühne beherrschten, erfreut sich der zum zweiten Mal ins Amt gewählte Bürgermeister Rosch Haayns der Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung. Laut einer Studie der Konrad Adenauer Stiftung befürworten die meisten Israelis engere Beziehungen mit Deutschland. Selbst Überlebende des KZs Dachau brachten hinter vorgehaltener Hand Verständnis für Sinais Haltung zum Ausdruck: "Die Jugendlichen dort sind doch nicht schuld daran, in Dachau geboren zu sein. Diese Stadt hat sich mehr als jede andere mit ihrer schweren Geschichte auseinandergesetzt", so ein Überlebender im Gespräch mit unserer Zeitung. Trotzdem hätte er es vorgezogen, wenn Sinai noch ein paar Jahre gewartet hätte: "Dann ist keiner mehr von uns da und es hätte niemand mehr gestört."
So lange wollen Rosch Haayn und Dachau aber nicht warten. Ende Oktober wird Dachaus Oberbürgermeister Peter Bürgel Israel besuchen, um die Details der Kooperation zu besprechen. Auch Sinai ist trotz aller Kritik entschlossen, den Austausch weiter voranzutreiben: "Wir brauchen diesen Dialog, um eine bessere Zukunft für unsere Kinder zu sichern."
© 2009 Gil Yaron - Making the Middle East Understandable