Auch das neue Jahr begann in Nahost mit einem ganz normalen Wochenende. In Syrien marschierten zehntausende gegen die Herrschaft Präsident Baschar Assads. Der setzte seine Schergen auf unbewaffnete Demonstranten an und ließ zig Menschen erschießen. Im Gazastreifen schikaniert die radikal-islamische Hamas weiterhin die Fatah, zu Jahresbeginn mit einem neuen Trick: Diesmal soll ein hochrangiger Fatahaktivist wegen Blasphemie angeklagt werden, weil er in einer Diskussion mit Hamaspolizisten Gott verflucht habe. Im Westjordanland zahlt die Fatah ihren palästinensischen Brüdern die Schikanen mit ähnlichen Methoden heim. Im Irak eskaliert eine Regierungskrise, die Dank blutiger Attentate und iranischer Einmischung jäh zum Bürgerkrieg entlang ethnischer Linien eskalieren könnte. In Ägypten feierten Islamisten ihren überwältigenden Sieg in den Parlamentswahlen und kündigten an, dass sie den Friedensvertrag mit Israel aufkündigen, oder zumindest „überprüfen“ wollen. In Israel tanzten 250 Frauen in Beit Schemesch aus Protest gegen religiöse Diskriminierung, während in Jaffa ein Führer der christlichen Gemeinde von einem als Weihnachtsmann verkleideten Täter erstochen wurde – Ausdruck der anhaltenden Spannungen innerhalb der arabischen Gesellschaft.
Trotzdem schien am Samstag die Sonne, der Regen machte eine kurze Wochenendpause. Dieser Tage werden Israels kahle Hügel von einer grünen Matte weichen Moos und frischen Grases bedeckt, und die 18 Grad im Schatten luden zu einem ausgedehnten Spaziergang ein. Hier, in der Umgebung von Beit Schemesch mit seinen sanft rollenden, bewaldeten Hügeln, deren Bäume von den Winterregen vom Sommerstaub befreit wurden, trieb vor mehr als 2000 Jahren der Bibelheld Samson sein Unwesen und machte deutlich, dass Zwist, Mord und Totschlag in diesem Land kein neues Phänomen sind. Er erschlug Philister mit dem Kiefer eines Esels, verbrannte ihre Felder mit zu Brandbomben umfunktionierten Füchsen und wurde einer der ersten Selbstmordattentäter des Nahen Ostens, als er ein Haus voller Philister über seinem Kopf zum Einsturz brachte.
Zehntausende nutzten den arbeitsfreien Samstag für einen Ausflug. Die matschigen Wanderpfade an der frischen Luft waren stellenweise so dicht bevölkert wie ein Einkaufszentrum zu Weihnachten. Eltern erklärten ihren Kindern die lokale Flora, Frauengruppen machten eine Schnitzeljagd, und eine Gruppe von arabischen Männern holperte mit einer langen Kolonne männlich vor Schmutz-starrender Geländewagen über den schlammigen Pfad. Am Abend in Abu Gosh, einem arabischen Dorf vor Jerusalem, wo man Schischlikspieße mit Hummus, der typisch nahöstlichen Kichererbsenpaste, verschlingen kann, dauerte es lang, bevor man vor den Restaurants einen Parkplatz fand – israelische Familien labten sich bereits bei arabischer Musik. Später, in Tel Aviv, waren die Kinos bis auf den letzten Platz gefüllt, vor den Cafés und Restaurants standen diejenigen Schlange, die nicht vor der Mattscheibe hingen, um eine neue, völlig unsinnige Realityshow zu verfolgen.
Was ist nun Realität Nahost – Ströme von Blut, Hass und Zwist, Fanatismus und blinder Machtsucht, oder der Alltag stinknormaler Menschen, die einander hassen sollten aber trotzdem friedlich auf Waldpfaden einander passieren, sich in Restaurants freundlich lächelnd grüßen und oft auch einander helfen? In einem Jahr des Umschwungs, in dem Revolutionen die arabische Straße ergriffen und Analysten Kriegswolken an einen düsteren Himmel malten, feierten Menschen hier auch die Geburt neuer Babys, gingen zur Arbeit, und ließen an manchen Tagen einfach nur die Seele baumeln. All das sind Teile einer komplexen Wirklichkeit, der der schmale, zweidimensionale Ausschnitt einer Zeitungsseite nicht gerecht werden kann.
Das Jahr 2012 wird für den Nahen Osten wahrscheinlich ein entscheidendes Jahr. Es wird über die Stoßrichtung der ägyptischen Revolution, den Erfolg des Aufstands in Syrien, den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern, den Zusammenhalt des Iraks, und das iranische Atomprogramm entscheiden. Doch darf man nicht vergessen, dass all die hohe Politik, dass Zwist und Krieg nur ein kleiner Ausschnitt einer viel umfassenderen Realität sind, in der mindestens so viel menschliche Wärme wie Hass, genauso viele Feindbilder wie gute Witze kursieren, die ebenso von zutreffenden Stereotypen wie von eigenwilligen Originalen bevölkert wird.
© 2011 Gil Yaron - Making the Middle East Understandable