Das schreibt die FAZ am 30.11.2008
"Der Nahost-Konflikt ist nicht zu lösen"
Die größte Gefahr für Israel seien die Israelis, behauptet Gil Yaron aus Tel Aviv. Mit solchen provokanten Thesen klärt der Autor und Arzt über die Probleme in seiner Wahlheimat auf.
Von Stefan Locke
Kommt die Rede auf Israel, geht es meistens um Probleme. Und ein Grundproblem des Landes spricht Gil Yaron gleich zu Beginn seiner Vorträge an. "Stecken Sie zwei Juden in ein Zimmer, und Sie haben mindestens drei verschiedene Meinungen." "Uhuhu", macht das Publikum; das hatte es so jetzt nicht erwartet. Yaron aber legt nach. "Das Einzige, worauf sich Israelis jemals einigen konnten, ist die Unabhängigkeitserklärung." Das war 1948, eine Verfassung aber gibt es bis heute nicht. "Und das ist selbst für israelische Verhältnisse eine Verspätung." Das Publikum lacht jetzt und wird locker. Wer hätte gedacht, dass man bei so einem Vortrag lachen kann, ja vielmehr: lachen darf?
"Man darf nicht nur, man muss sogar", sagt Yaron. Humor zählt für den Fünfunddreißigjährigen zur Vermittlungsstrategie seines in der Tat sehr ernsten Themas. Bereits zum zwölften Mal ist er in diesem Jahr nach Deutschland eingeladen, um über das Leben in Israel und den Konflikt zwischen Muslimen und Juden zu berichten. Oder besser: aufzuklären. Daheim in Tel Aviv tut er nichts anderes; von dort berichtet er als Nahost-Korrespondent für rund zwanzig deutsche und österreichische Zeitungen - von den "Aachener Nachrichten" und dem "Rheinischen Merkur" bis zur "Wiener Neuen Illustrierten" sowie für die Deutsche Welle, NDR und WDR. Und jetzt hat er auch noch ein Buch geschrieben. "Jerusalem - ein historisch-politischer Stadtführer" heißt das vielbeachtete Erstlingswerk, in dem er auf gerade mal zweihundert Seiten die historische Bedeutung der Stadt aus Sicht der drei Weltreligionen sowie den Verlauf des Nahost-Konflikts seit Ende des 19. Jahrhunderts schildert.
Komplexe Diagnosen ist Gil Yaron gewohnt, schließlich ist er Doktor der Medizin, genauso wie sein Vater und sein Großvater. Er spricht sechs Sprachen fließend: Arabisch, Hebräisch, Englisch, Französisch, Italienisch und natürlich Deutsch. Das ist seine Mutter- oder, wie er sagt, Familiensprache. Seine gesamte Verwandtschaft stammt aus Deutschland. Der Opa väterlicherseits arbeitete als Frauenarzt im Städtischen Krankenhaus Nordhausen, der Großvater mütterlicherseits war Verkäufer bei Hermann Tietz in Aachen. Beide erhielten im Frühjahr 1933 die Kündigung, weil sie Juden waren. Sie entschieden sich mit ihren Ehefrauen sehr schnell zur Flucht nach Palästina.
"Das war ihr Glück", sagt Yaron. Die daheim gebliebene Familie seiner Mutter schaffte es zwar Ende August 1939 noch auf ein Schiff nach Argentinien; von den in Deutschland gebliebenen Mitgliedern des väterlichen Familienzweigs aber überlebte niemand den Holocaust. Dennoch ist die Verbindung beider Familien zu Deutschland bis heute nicht abgerissen, im Gegenteil. Die Eltern seiner Mutter gingen mit den Kindern Ende der fünfziger Jahre zurück nach Aachen. "Sie waren urdeutsch geprägt und kamen in Israel einfach nicht zurecht." Sein Vater wiederum studierte Medizin in Wien und arbeitete anschließend als Internist in München.
Dort lernten auch Gils Eltern einander kennen und übersiedelten 1970 nach Haifa. Doch die Existenz als Arzt war schwierig und wenig lukrativ, weshalb sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes 1973 mit ihm und seinen beiden Schwestern nach Düsseldorf zogen - und bis heute in der Stadt blieben. In Düsseldorf machte Gil Yaron 1991 sein Abitur und ging anschließend zum Studium in die Vereinigten Staaten, entschloss sich aber kurz darauf, nach Israel zu ziehen. "Ich wollte Hebräisch lernen, das meine Eltern immer nur als Geheimsprache untereinander nutzten." Yarons erster Anlaufpunkt war ein Kibbuz, wo er in der Bäckerei und im Hühnerstall sowie auf den Plantagen bei der Mangoernte half. Am Ende gefiel es ihm so gut, dass er beschloss zu bleiben.
Die Eltern waren von der Idee keineswegs begeistert, ihr Sohn dafür umso mehr. "Ich habe in Deutschland nie Antisemitismus erfahren", sagt er. "Aber es gab immer Erklärungsbedarf." Die Fragen drehten sich um so gut wie alles, was für einen Juden ganz normal ist: "Warum isst du kein Schweinefleisch, warum bist du beschnitten, warum kommst du freitags nicht mit in die Disko?" Dabei ist Yaron selbst nicht gläubig, wohl aber jemand, der sich an viele Traditionen hält. "Es lebt sich leichter, wo solche Dinge selbstverständlich sind und man sich nicht ständig erklären muss." Gil Yaron zog nach Jerusalem, ging zum Militär, arbeitete als Vize-Pressesprecher in der Knesset, studierte Geschichte und anschließend Medizin. Bei diesem ganz eigenen Lauf durch die Institutionen lernte er das Land kennen und lieben - mit allen Annehmlichkeiten und Vorzügen genauso wie mit sämtlichen Macken und Fehlern.
Während des Studiums begann er, seine Beobachtungen und Erfahrungen aufzuschreiben. "Mein erster Artikel handelte von einem Bauern in den judäischen Bergen, der einen sehr begehrten Ziegenkäse herstellte." Das Stück bot er zahlreichen deutschen Redaktionen an - vergeblich. Nur die "Neue Illustrierte" in Wien wollte den Käse schließlich haben und kurz darauf noch mehr. Bald schrieb Yaron Leitartikel, und als die amerikanischen Truppen 2003 im Irak einmarschierten und auch Israel angegriffen wurde, er aber im Krankenhaus Praktikum machte, operierte er beinahe täglich auf seine Weise. "Ich war im OP-Saal, bin in den Pausen raus ans Handy, habe meinen Bericht durchtelefoniert und bin danach wieder zurück in den OP."
In dieser Zeit wurden auch deutsche Zeitungen auf ihn aufmerksam, bald schrieb er für 15 Blätter und berichtete für vier Radiostationen. Das reichte, um sein Studium zu finanzieren und um sich selbst umzuorientieren. Nach Abschluss des Medizinstudiums wurde das Hobby Schreiben zum Beruf und aus dem Reporter mit Bauchladen ein Nahost-Korrespondent. Er liefert politische Stücke, Porträts und Einschätzungen, bedient aber auch die bunten Themen. "Gefragt ist alles mit Deutschland-Bezug", sagt er. So Sachen wie Lothar Matthäus' Trainerstation beim israelischen Erstligisten Maccabi Netanya, das Oktoberfest in Ramallah, die deutschen Templer in Haifa oder das BKA, das in Jericho trainiert.
Freilich würde er oft gern mehr über politische Hintergründe berichten, als der Platz in den Zeitungen hergibt. Aber auch über die Prioritäten wundert er sich manchmal: "Die ewige Lieblingsfrage der Deutschen lautet: ,Was bedeutet das für den Friedensprozess?'", erzählt Yaron und lacht. Denn so gut wie alle Nahost-Korrespondenten haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Längst ist bei ihnen folgender Witz ein Klassiker: "Im Zoo von Tel Aviv wird ein Elefantenbaby geboren. Frage an die Zooleitung: Was bedeutet das für den Friedensprozess?" Die Kehrseite dieser Entwicklung ist eine gewisse "Israel-Müdigkeit", die Yaron in Deutschland feststellt, aber auch die generelle Furcht und Verklemmtheit im Umgang mit seinem Land.
Auch deshalb hat er sich entschlossen, auf Tournee zu gehen. In nur einer Stunde kann er eingängig die verzwickte Lage in Israel erläutern. Mit knackigen Begriffen, kurzen Sätzen, klarer Betonung, aber auch gezielten Provokationen schafft er es, den Konflikt zu strukturieren. "Das Land hat mit fünf einzigartigen Bedrohungen zu kämpfen", erläutert Yaron. "Und die größte davon sind die Israelis selbst." Damit überrascht er seine Zuhörer regelmäßig. Von der noch immer angezweifelten Existenzberechtigung des Landes, den Angriffsdrohungen aus Nachbarstaaten, dem permanenten Beschuss durch Hizbullah und Hamas und der zunehmenden Gewaltbereitschaft arabischer Israelis haben die meisten schon gehört. Aber die Juden selbst eine Gefahr für Israel?
"Ja", erläutert Yaron. Vor allem die wachsende Zahl und der zunehmende Einfluss ultraorthodoxer Juden, die den Staat ablehnen, sowie die militanten Siedler, die rücksichtslos das Westjordanland okkupieren, drohten die israelische Gesellschaft zu spalten. Noch seien beide Gruppen relativ klein, hätten aber mit bis zu acht Kindern je Familie im Schnitt rund viermal mehr Nachwuchs als der Durchschnitts-Israeli. Und während Letztere meist politikverdrossen seien und einfach nur ihre Ruhe haben wollten, steigerten Erstere gezielt ihren Einfluss in Politik und Militär.
Ultras und radikale Siedler lehnen jegliche Vereinbarungen mit den Palästinensern ab, die wiederum untereinander nicht einig sind. Schon beim Abzug aus dem Gazastreifen vor drei Jahren, den Yaron als "Sternstunde Israels" bezeichnet, habe die israelische Gesellschaft deshalb vor einer Zerreißprobe gestanden. Diese wird er in seinem neuen Buch über seine Heimatstadt Tel Aviv ausführlich schildern. Denn so wie Jerusalem für den Nahost-Konflikt stehe, sei Tel Aviv ein Synonym für den innerisraelischen Konflikt; Liberalität und Lebensfreude auf der einen sowie Zerrissenheit und Radikalität auf der anderen Seite.
Als Fazit steht für ihn schon heute fest: "Sollte es je zu einem Frieden zwischen Israelis und Palästinensern und damit zu einem Rückzug aus dem Westjordanland kommen, droht dem Land ein Bürgerkrieg." Die Konsequenz dieser These freilich ist ernüchternd. "In Europa herrscht immer das Gefühl, man müsse doch jetzt mal den Nahost-Konflikt lösen", sagt Yaron schließlich sehr ernst. "Aber dieser Konflikt ist nicht zu lösen. Man kann ihn nur vernünftig und mit möglichst wenig Leid verwalten."
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.11.2008, Nr. 48 / Seite 68
|