„Es ist unfassbar“, stammelte Gideon Remes im israelischen Staatsradio, als er zu seiner Einschätzung der blutigen Angriffe in Oslo gefragt wurde, dabei passt Überraschung eigentlich gar nicht zu ihm. Remes ist ein kampferprobter Fallschirmjäger, erfahrener Journalist und gebildeter Historiker: Er ist ein Kenner blutiger Schlachten, barbarischer Terroranschläge und menschlicher Grausamkeit. Dann sprach Remes das aus, was viele Israelis so erschütterte: Jenseits des sinnlosen Todes friedlicher Jugendliche passte die Identität des Täters nicht in ihr Weltbild. „Er hat das Gesicht eines Engels: So ein kantiges Kinn, blonde Haare und blaue Augen, er sieht aus wie ein Schauspieler“, sagte Remes. Mit anderen Worten: Anders Behring Breivik sieht weder arabisch noch muslimisch aus, also so, wie Attentäter auszusehen haben. Unverständlich, dass ein kultivierter Norweger einen Massenmord begehen konnte. Sechzig Jahre nach dem Holocaust können Israelis sich blonde Teufel nur noch schwer vorstellen.
Erleichterte atmete man auf als klar wurde, dass der Anschlag nichts mit Israel oder Juden zu tun hatte. Man hat hier Angst, immer mehr zum weltweiten Paria zu werden, wird doch die einzige Demokratie im Nahen Osten seit Jahrzehnten in internationalen Foren strenger an die Kandare genommen als die Schurkenstaaten dieser Welt. Wenigstens diesmal würde sich der internationale Aufschrei nicht um eine vermeintliche israelische Missetat drehen. Ohnehin fühlt Israel sich oft missverstanden. Blutige Ereignisse wie der Zweite Libanonkrieg 2006 oder der Krieg in Gaza 2009 mögen von der Welt als Aggression anprangert werden, Israelis sehen sie lediglich als legitime Selbstverteidigung. Norwegen, und viele andere Staaten, verurteilen Israels Besatzungspolitik als illegal, rassistisch und ungerecht, hier wertet man sie als Methode, die das eigene Überleben sichern und vor Terrorangriffen schützen soll. Deswegen beschäftigte Israel am Wochenende, wie nach jedem großen Attentat, wieder folgende Frage: Wird das friedliche, naive Norwegen nach dem Trauma mehr Verständnis für den Judenstaat und seine prekäre Lage aufbringen? Werden die Norweger jetzt empfänglicher für die israelische Haltung, die bei Gefahr zuerst schießt und dann Fragen stellt? Verstehen sie jetzt, warum Israelis lieber als ungerechter Mörder dastehen statt als friedliebende Terroropfer tot zu Grund eines Sees sinken?
Ähnlich befremdlich reagierte die Hamas in Gaza: Aus tausenden Kilometern Entfernung übermittelte sie zuerst ihr Mitgefühl nach Oslo, und erklärte später, es sei völlig klar, wer hinter dem Attentat stecke. Viele Bewohner Gazas glauben es sei unmöglich, dass ein Muslim eine derartige Bluttat begehe, allen Beweisen der jüngeren Vergangenheit zum Trotz. Der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad sei hingegen verantwortlich, nur er sei machiavellistischen Berechnungen und teuflischen Schreckenstaten fähig. Das Attentat wurde zum Racheakt für die pro-palästinensische Haltung Norwegens uminterpretiert. Anhänger von Verschwörungstheorien und pro-palästinensische Blogger genügte der Umstand, dass der rechtsextremistische Täter in Foren Islam-feindlicher und Israel-freundlicher Gruppierungen getextet habe, als Beweis, um den vermeintlichen jüdischen Terrorstaat zu überführen. Der Teufel kann für sie nur ein Israeli sein.
Es ist menschlich, dass Israelis und Palästinenser die Welt anhand ihrer Erfahrungen analysieren. Von außen betrachtet scheinen die Konsequenzen, die sie aus dem Massaker in Oslo ziehen, absurd. Dennoch offenbaren diese Reaktionen eine wichtige Lektion: Verallgemeinerungen sind gefährlich ungenau, wenn sie im eigenen Kulturraum unkritisch angewandt werden. Transplantiert man sie auf andere Teile der Erde, sind sie schlichtweg irreführend. Das gilt für Israelis und Palästinenser, die Europa analysieren, im selben Maße wie für Europäer, die sich am Stammtisch eine gefestigte Meinung über den Nahen Osten bilden.
© 2011 Gil Yaron - Making the Middle East Understandable