Ein neues Opferlamm
„Nein“, beruhigte man mich, ich trage keine persönliche Verantwortung für die Kreuzigung Jesu. Aber mein Volk sei trotzdem auf dem Irrweg, mein Glaube falsch, und die Juden müssten Buße tun, fuhr der Sprecher fort. Erleichtert legte ich den Hörer auf und beendete damit das Interview, das ich 2009 mit der Piusbruderschaft anlässlich der Aufhebung ihrer Exkommunikation aus der katholischen Kirche führte: Diese Christen würden mich also nicht auf Erden verfolgen nur weil ich Jude bin, sondern drohten mir lediglich mit dem Fegefeuer im Jenseits. Damit kann ich leben: die Brüder sind eine verschwindend kleine Minderheit, ihr Einfluss in himmlischen Sphären wahrscheinlich eher gering, und das Fegefeuer erscheint nicht bedrohlich, wenn man jedes Jahr die schwülen, heißen Sommertage Tel Avivs übersteht.
Doch eine Paneldiskussion, zu der ich dieses Wochenende in Bonn eingeladen war, raubt mir den Schlaf. „Umbruch in der arabischen Welt – ist Europa überfordert?“ lautete das Thema der Veranstaltung, auf der ich mit einem deutschen Botschafter a.D. darüber diskutierte, wie Europa mit dem Wandel in Nahost umgehen sollte. Für den verdienten Diplomaten, dessen Karriere ihn durch die arabische Welt führte, war die Antwort klar: Jetzt sei es an der Zeit, Israel an die Kandare zu nehmen. Um neue Brücken zur demokratisierenden arabischen Welt zu bauen, müsse Europa die Waffenlieferungen an den Judenstaat einstellen, die Besatzer in „kritischem Dialog“ zwingen, sich an internationales Recht zu halten, Israel in den Vereinten Nationen isolieren und unter Druck setzen. Als Ratschlag genügte das dem Vorstandsmitglied der deutsch-arabischen Gesellschaft, und scheinbar auch einer Mehrheit im klatschenden Publikum, das sich in der Fragerunde hauptsächlich mit „israelischen Kriegsverbrechen“ auseinandersetzen wollte.
Da bespricht man die Veränderungen in der arabischen Welt, die aus 22 Staaten besteht die sich über 14 Millionen Quadratkilometer erstrecken, und konzentriert sich auf die 22.000 Quadratkilometer Israels als hinge die Lösung der Probleme von 315 Millionen Arabern ausschließlich vom Schicksal vier Millionen Palästinenser ab. Natürlich ist Israel als Teil der Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, sich an internationales Recht zu halten. Israels Regierung verdient es, für ihre Außenpolitik kritisiert zu werden. Den Palästinensern steht ein Staat zu, wie jedem anderen Volk, sie müssen ihn nicht verdienen. Sie haben Anspruch auf Bewegungsfreiheit und Selbstverwirklichung, wie die Südsudanesen, die Tibeter, die Uiguren und die Basken.
Doch wie kann es sein, dass der beste Ratschlag, der einem erfahrenen Diplomat einfällt, um Europa dem „neuen Arabien“ näher zu bringen, ist, Israel an den Pranger zu stellen? Verhilft es über 80 Millionen verarmten Ägyptern zu Wohlstand, wenn die UN Israel ausschließen? Wird die körperliche Unversehrtheit von über 80% zwangsbeschnittenen Frauen in vielen arabischen Ländern wiederhergestellt, wenn die Bundesregierung sich von Israel abwendet? Ist den demokratischen Kräften Arabiens geholfen wenn Israel boykottiert wird? Wächst Europas Einfluss auf Arabiens militante Islamisten, wenn Deutschland Israel keine U-Boote liefert? An einem Abend, der sich scheinbar dem Wandel in Arabien widmete, spielte der jüngste Schlagabtausch zwischen Israel und der Hamas, bei dem über 20 Palästinenser, die meisten davon bewaffnete Aktivisten islamistischer Terrororganisationen die in wenigen Tagen mehr als 170 Raketen auf israelische Großstädte abschossen, eine wichtigere Rolle als der Tod von mehr als 200 Demonstranten in Syrien, die bei friedlichen Protesten gegen Baschar Assads Regime von ihren eigenen Landsleuten niedergemäht wurden – eine bedenkliche Proportion.
Man hat scheinbar nichts dazugelernt. Israel spielte in den Protesten in der arabischen Welt keine Rolle, außer als Buhmann der Despoten. Die wollten den Demonstranten ihre Legitimation entziehen, indem sie sie der Kollaboration mit dem Judenstaat bezichtigten. Seit 62 Jahren dient Israel arabischen Potentaten als Vorwand um die eigene Bevölkerung zu unterdrücken, und die Welt schluckt dieses Scheinargument. Hosni Mubarak durfte nach Herzenslust verhaften, Wahlen stehlen und morden – solange er als „stabilisierender Faktor im Nahostkonflikt“ galt, wurde er in westlichen Hauptstädten mit Kusshand empfangen.
Der Abend in Bonn erweckt die Furcht, dass dies so bleiben wird. Wer immer noch die Besatzung der Palästinenser als einziges oder wichtigstes Problem in Arabien ausmacht, lässt die Chance einer wahren Demokratisierung in Nahost verstreichen. Europa muss sich massiv für die Palästinenser einsetzen, doch darf es dabei nicht mehr über die Verfolgung von Christen in der arabischen Welt schweigen oder die rechtliche Benachteiligung von Frauen und ethnischen Minderheiten hinnehmen, und muss dafür sorgen, dass die Despoten von gestern nicht von den Autokraten von morgen ersetzt werden.
Israel als Quell aller Probleme im Nahen Osten zu brandmarken, ist die Fortsetzung einer erprobten, irregeführten Ablenkungstaktik, die die Probleme der arabischen Welt nicht lösen und deswegen Europa den Arabern auch nicht näher bringen wird. Für die diplomatischen Piusbrüder, die dennoch solche Theorien vertreten, kann ich nur hoffen, dass sie für ihren bösen Rat mehr bekommen als 30 Silberlinge.
© 2011 Gil Yaron - Making the Middle East Understandable
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