Vom Halb- zum Vollmond Dieser Artikel erscheint im März im Magazin "Internationale Politik"
„Seit mehr als hundert Jahren hat im arabischen Nahen Osten keine Geschichte mehr stattgefunden“ behauptete noch vor kurzem Thomas Friedmann, einer der wichtigsten Kommentatoren Amerikas. Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts wurde Arabien von feudalen Strukturen beherrscht, die jede gedankliche Neuerung im Keim erstickten. Spätestens seit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten scheint dieses Manko behoben: Im Nahen Osten fand Anfang 2011 reichlich Geschichte statt. Noch ist unklar, ob die Selbstverbrennung, mit der ein 26 Jahre alter tunesischer Gemüsehändler die Revolte auslöste, zu einem allumfassenden Flächenbrand wird, und wie tiefgreifend die Umwälzungen sein werden. Ebenso unsicher bleibt deswegen auch, wer aus dem Jahr 2011 als Gewinner hervorgehen wird. Mittelfristig stehen jedoch bereits ein paar Verlierer fest: Die Supermacht USA und ihre Verbündeten im Westen und Nahost.
Im Jahr 2004 prägte Jordaniens König Abdallah II die Theorie vom „Hilal al Schi’i“ – dem „schiitischen Halbmond“. Ihr liegt die Spaltung der muslimischen Welt in eine Mehrheit von Sunniten und Minderheit von Schiiten, rund 15% der Muslime weltweit, zugrunde. Diese religiösen Strömungen streiten sich, wer rechtmäßiger Nachfolger des Propheten Muhammad ist und die Gläubigen anführen darf. Diese Feindschaft ist alt: Sunniten und Schiiten bekämpfen sich seit der Schlacht von Kerbala im Jahr 680 und bezichtigen sich gegenseitig der Häresie. Ihr Verhältnis zueinander ist vergleichbar mit den Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten während des Bismarckschen Kulturkampfes des späten 19. Jahrhunderts. Arabische Staaten sind mehrheitlich sunnitisch, beherbergen jedoch oft schiitische Minderheiten, deren geographische Verbreitung Abdallah II. als „Halbmond“ beschrieb. Sunnitische Herrscher fürchten sie nicht nur wegen religiöser Unterschiede, sondern weil sie sie als „fünfte Kolonne“ im Dienst Irans betrachten.
Iran, ein nicht-arabischer Staat, ist der einzige mehrheitlich muslimische Staat, der von Schiiten geführt wird. Der Präsident der Islamischen Republik Mahmud Ahmadinedschad macht aus seinen Ansprüchen nach regionaler Hegemonie keinen Hehl. Trotz erheblicher sozialer Probleme daheim finanziert die Al-Quds Brigade, der außenpolitische Arm der iranischen Revolutionswächter (Pasdaran), regimefeindliche Islamisten in der gesamten Region. Spätestens seit den Veröffentlichungen von Wikileaks wurde klar, dass die Theorie des Hilal a-Schi’i im Verbund mit dem iranischen Atomprogramm das Weltbild der Herrscher im Nahen Osten bestimmt. Schon kurz nach der Machtübernahme Ahmadinedschads im Jahr 2005 warnten Militärs der Vereinten Arabischen Emirate, dass Irans neuer Präsident „verrückt“ sei. Abu Dhabis Kronprinz „beschrieb einen baldigen konventionellen Krieg als deutlich bessere Alternative gegenüber den langfristigen Folgen eines atomar bestückten Irans.“ Saudi Arabiens König Abdallah forderte wiederholt, den Iran anzugreifen um „den Kopf der Schlange abzuschlagen.“
Dieser Kampf der Titanen – die USA und ihre Verbündeten auf der einen Seite gegen den Iran und seine Anhänger auf der anderen – spiegelt sich in jedem lokalen Konflikt. Im Libanon, Irak, Jemen, oder Palästina werden die Kräfte, egal ob sunnitisch oder schiitisch, entlang einer Skala eingeordnet, deren Pole von Washington und Teheran gebildet werden. In Ramallah ringt die pro-westliche Palästinensische Autonomiebehörde (PA), getragen von Steuergeldern der EU und den USA, gegen die radikal-islamische Hamas in Gaza, die sich nur dank Zuwendungen aus dem Iran halten kann; im Libanon kämpft das pro-westliche Lager des 14. März Saad Hariris gegen das Lager des 8. März, das von der Hisbollah Miliz geführt wird, dem langen Arm der Pasdaran.
Ägypten spielt als bevölkerungsreichster arabischer Staat in diesem Zweikampf eine Schlüsselrolle. Präsident Hosni Mubarak befehligte die schlagkräftigste arabische Armee und regierte vom „Nabel der arabischen Nation“. Sein Wort hatte Gewicht. Im ersten Golfkrieg, im Libanon, im inner-palästinensischen oder im israelisch-palästinensischen Konflikt vermittelte Mubaraks Ägypten auf Wunsch des Westens. Selbst wenn Mubarak nicht aus Liebe handelte, sondern um die Interessen Kairos angesichts der Bedrohung aus Teheran oder Islamisten vom Schlage Al Qaedas zu schützen, bricht dem Westen mit jeder Schwächung Ägyptens eine tragende Säule weg.
Dafür müssen nicht einmal die Horrorszenarien eintreten, vor denen Israel unaufhörlich warnt. Jerusalems Weltanschauung ist maßgeblich von Holocaust, neun Kriegen und zwei Intifadas geprägt. Hier erscheinen pessimistische Prognosen oft als die realistischsten. Deswegen legte sich Premier Benjamin Netanjahu als einer der einzigen westlichen Staatschefs auch zehn Tage nach Beginn der Unruhen in Kairo noch für Mubarak ins Zeug. Am 1. Februar formulierte er seine Bedenken in einer Ansprache vor der Knesset: „Die jüngste Geschichte zeigt uns viele Fälle im Nahen Osten in denen islamistische Elemente die demokratischen Spielregeln missbrauchten um an die Macht zu kommen“, sagte Netanjahu, und nannte den Iran, Libanon und Gaza.
Eine Machtübernahme der Muslimbruderschaft (MB), meint Israel, ist lediglich eine Frage der Zeit, da sie Ägyptens größte und disziplinierteste Oppositionsbewegung ist. Auch die Oktoberrevolution in Russland oder der Sturz des Schahs im Iran wurden anfangs maßgeblich von pragmatischen, demokratischen Kräften getragen, nur um von Extremisten gekapert zu werden.
Ein Ägypten in den Händen der MB würde für Israel zu einer existentiellen Bedrohung. Es sei „Pflicht, den bewaffneten Widerstand der Palästinenser mit allen Mitteln zu unterstützen“, heißt es in einem Kommuniqué der MB vom März 2010. Israel und die USA verlören ihren wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die Islamisten der Hamas, eine Tochterorganisation der MB. Die Hamas gewänne jäh strategische Tiefe, diplomatischen Rückhalt und gesicherte Nachschublinien. Für den heute ohnehin schon fast chancenlosen Ansatz, die pragmatische PLO wieder als wichtigste Fürsprecherin der Palästinenser hochzupäppeln und nach Gaza zurückzuführen, wäre das der Garaus.
Unter der MB würde Ägypten zum Feind. Teile der MB wollen den Friedensvertrag mit Israel annullieren und Ägyptens Armee wieder im Sinai aufmarschieren lassen. Israels Armee wäre zum Umdenken gezwungen: Bisher galt das Szenario eines Drei-Fronten Kriegs gegen Syrien, einen Gegner im Osten und Ägypten als unwahrscheinlich. Jetzt darf es nicht mehr ausgeschlossen werden. Für einen simultanen Kampf gegen Ägyptens Armee, der zehnt-größten der Welt, ist Israel aber nicht gerüstet. Investitionen, die bisher in Forschung und Infrastruktur flossen, müssten in Rüstung gesteckt werden, um mindestens zwei weitere Panzerdivisionen aufzubauen.
Ein Krieg zwischen Ägypten und dem nuklear gerüsteten Israel scheint vorerst jedoch undenkbar. Auch der offene Schulterschluss zwischen Kairo und der Hamas ist eher unwahrscheinlich. Bisher begnügt sich die MB damit, hinter den Kulissen zu agieren. Nach Jahrzehnten Verfolgung setzt ihre Führung bescheidene Ziele, um niemand zu provozieren. Doch selbst wenn sie in Folge eines Wahlgewinns selbstsicherer wird und mit größeren Forderungen auftritt, bleibt die Armee vorerst die mächtigste Institution Ägyptens. Dank einer Militärhilfe von jährlich über US$ 1,3 Mrd. und Kontakten mit den Militärs werden die USA deswegen in entscheidenden außenpolitischen Fragen weiterhin mitreden können.
Doch zwei wahrscheinliche Szenarien bleiben problematisch. Ob vor oder hinter den Kulissen – die MB wird künftig Einfluss auf Ägyptens Politik ausüben. Dafür dient die Türkei als Präzedenzfall: Einst enger Bündnispartner Israels und der USA, ist sie jetzt ein eigenständiger Akteur. Die neo-osmanische Politik Tayyip Erdogans untergräbt Amerikas Versuche, Syrien und den Iran zu isolieren, und schwächt Bündnispartner in Palästina und Libanon. Genau wie in Ankara würde die MB auch in Kairo die Macht der Militärs langfristig untergraben, um dadurch ihren wichtigsten innenpolitischen Gegner und Garant westlichen Einflusses zu entmachten.
Selbst kleine Kursänderungen in Kairo hätten für die gesamte Region enorme Konsequenzen. Kairo muss nicht zu Teheran überlaufen, um das Machtgleichgewicht in Nahost zu ändern. Es genügt, wenn es aufhört, sich in Washingtons Sinn zu engagieren. Einen Vorgeschmack bot sich zu Anfang der Unruhen, als inhaftierte Hamas-Aktivisten und Terrorzellen der Hisbollah aus ägyptischen Gefängnissen nach Gaza und in den Libanon flüchteten. Am 5. Februar griffen Terroristen die Gaspipeline im Sinai an, und unterbrachen damit die Energieversorgung Jordaniens für eine Woche. In Amman, wo die Nerven aufgrund steigender Preise ohnehin offen liegen, könnte eine Energiekrise weitere Unruhen anfachen.
Eine demokratisch gewählte Regierung in Ägypten müsste den Anliegen der MB und der Bevölkerung Rechnung tragen. Laut einer Umfrage des Pew Research Centers vom Dezember 2010 sympathisieren rund 30% der Ägypter mit der Hisbollah, 49% mit der Hamas, und 20% gar mit Al Qaeda oder Osama Bin Laden. Ein ähnlicher Proporz hielt Selbstmordattentate gegen Zivilisten für gerechtfertigt, um den Islam zu verteidigen. Eine MB-Regierung wird sich kaum bemühen, die Blockade Gazas aufrechtzuerhalten. Die ohnehin enge Zusammenarbeit von Pasdaran und Qassam-Brigaden würde intensiviert. Kairo müsste keine Raketen an die Hamas liefern – es genügt, wenn Polizisten im Sinai wegschauen, wenn reguläre Mittelstrecken- oder Flugabwehrraketen nach Gaza geschmuggelt werden, die das Machtgefüge in der Region verschieben. Israel sähe sich dann zu Eskalation gezwungen.
Im Gegensatz zu Mubarak könnte eine von der MB-gestützte Regierung von spannungen um Gaza profitieren: Je erfolgreicher und herausfordernder die Hamas in Gaza, desto besser die Position ihrer Mutterorganisation in Ägypten. Diese, aus der Sicht der MB, positive Rückkopplung, gilt auch für Rhetorik. Selbst eine völlig transparente, demokratische Regierung kann die Forderungen der Demonstranten nach Arbeitsplätzen und sozialer Gerechtigkeit selbst mittelfristig kaum erfüllen. Um in der Zwischenzeit die eigene Legitimation und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erhöhen, böte sich die Schaffung, oder Aufrechterhaltung, eines äußeren Feindes. Ägypten wird deswegen die Rhetorik gegenüber Israel bedeutend verschärfen, zumal ein Israel-feindliches Vokabular mit antisemitischen Untertönen ohnehin zum allgemeinen Diskurs gehört. Das wäre weder einem Friedensprozess, noch dem pragmatischen Lager der Palästinenser dienlich.
Noch problematischer ist der potentielle regionale Niederschlag des amerikanischen Verhaltens während der Unruhen. Zwar weisen Washington und seine europäischen Verbündeten den Vorwurf, Mubarak im Stich gelassen zu haben, weit von sich. Trotzdem verblüffte es die Akteure in Nahost, wie schnell Präsident Barack Obama sich von einem seiner zuverlässigsten Verbündeten distanzierte. Dafür sollen zwei Beispiele reichen: Mubarak versprach am 2. Februar, sein Amt im November niederzulegen. Nur wenige Stunden erklärte U.S.-Präsident Barack Obama: „Es ist klar, und ich sagte das Präsident Mubarak heute Abend, dass ich glaube dass ein geordneter Übergang Inhalt haben, friedlich sein und sofort beginnen muss [Betonung des Autors].“ Mubarak sprach von fünf Monaten – Obama wollte ihn sofort außer Amtes sehen. Diese Lösung ließ dem einst besten Verbündeten des Westens keine Option Gesicht zu wahren.
Mit Verwunderung beobachtete man im Nahen Osten, wie unterschiedlich Obama auf die Unruhen in Kairo und in Teheran reagierte. Den Iran, gemäß der Theorie des Hilal a Schi’i der Erzfeind Amerikas, behandelte er mit Samthandschuhen. Als Proteste in Teheran brutal niedergeschlagen wurden, meldete Washington sich erst nach acht Tagen: „Die Iraner sollten wissen, dass die Welt zuschaut. Wir bedauern den Verlust jedes unschuldigen Menschenlebens […] Die Iraner werden letztlich die Handlungen ihrer Regierung beurteilen“, hieß es in einem Kommuniqué. Von Entrüstung oder Drohung keine Spur. Obama schloss seine Stellungnahme mit einem Zitat Martin Luther Kings: „Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er neigt in Richtung Gerechtigkeit.“ Der Vergleich zum von Mubarak geforderten „sofortigen“ Wandel könnte größer nicht sein.
Zu den Unruhen in Kairo hingegen reagierte das Weiße Haus umgehend: Schon am zweiten Tag der Demonstrationen stellte es fest, dass „die ägyptische Regierung eine wichtige Gelegenheit hat, die Wünsche des ägyptischen Volkes zu beantworten.“ Man habe einen „festen Glauben daran dass alle Menschen sich nach gewissen Dingen sehnen“, darunter, und hier der Schlag unter Mubaraks Gürtellinie, „eine transparente Regierung frei von Korruption.“
Der Nahe Osten ist verdattert. Amerika ist steinhart mit seinen Verbündeten, wie die Beispiele Mubaraks jetzt, oder Netanjahus und des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas im Vorjahr, zeigen, zu seinen Feinden aber windelweich. Erst im Januar ermutigte Obama Libanons Premier Saad Hariri zu einer aussichtslosen Konfrontation mit der Hisbollah, die jener prompt verlor. Inzwischen stellt die Hisbollah die Regierung in Beirut, Amerikas Verbündete manövrierten sich, mit den Ratschlägen aus Washington, selber ins Aus.
Wohl niemand brachte die nahöstliche Betrachtung prägnanter auf den Punkt als Walid Dschumblatt, der erfahrene Führer von Libanons Drusen. Dschumblatts Vater und Vorgänger in der Position als Sprecher der Drusen wurde 1977 ermordet, wahrscheinlich von syrischen Agenten. Walid lernte so die Gefahren politischer Fehltritte früh kennen, und gilt seither als sensibler Indikator der regionalen Machtverhältnisse. Nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers Rafik Hariri im Jahr 2005 lief Walid Dschumblatt ins pro-westliche Lager über. Eine Welle der Empörung beendete damals Syriens Besatzung. Die USA hatten den Irak ausgeschaltet und es sah so aus, als wäre Damaskus ihr nächstes Ziel. Dschumblatts Fraktion ermöglichte es Hariris Sohn, die Hisbollah politisch in Schach zu halten. Doch im Januar kehrte Dschumblatt in den syrischen Schoß zurück. Vor seinen Anhängern erklärte der Wendehals seinen Schritt mit folgendem Argument: Die Schutzmächte der pro-westlichen Kräfte im Libanon, sprich die USA und die EU, kämpften „nur mit Kommuniqués, während ihre Widersacher alle Formen politischen und militärischen Drucks […] einsetzen.“
Die friedliche Revolution der Massen erweckt zu Recht Bewunderung. Bei vielen, inklusive den USA, wächst damit auch die Hoffnung, es sei die Dämmerung einer neuen, besseren Ära im Nahen Osten. Dabei vergisst man all zu leicht, dass im Libanon, Palästina, Irak, in der Türkei und nun in Ägypten den USA und dem Westen alte Verbündete wegbrechen. Geht es so weiter, müsste Abdallah II. seine Theorie vom schiitischen Halbmond bald aktualisieren: Wenn die wichtigsten Staaten des Nahen Ostens von Verbündeten des Irans oder Amerika-feindlichen Kräften dominiert werden, würde aus dem schiitischen Halbmond ein Vollmond. Für Obama hieß es dann „Gute Nacht“.
© 2011 Gil Yaron - Making the Middle East Understandable
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